Sonntag, 27. Oktober 2019

Die Psychiatrie, ich und Recovery

Was könnte ich eigentlich zur Psychiatrie schreiben, ohne dass man mir einen Titel vorgibt, ohne dass ich vorher lange überlege, sondern die Gedanken nehme, wie sie kommen:

Als erstes denke ich da an meine grundsätzliche Einstellung zur Psychiatrie. Vor vielen Jahren habe ich Schlimmes in der Psychiatrie erlebt: Fixierungen., Zwangsspritze, zuletzt 2009 Isolierung. Das hat aber alles nicht dazu geführt, dass ich ein Psychiatriegegner geworden bin. Lange Zeit habe ich an mir gezweifelt, dass ich deswegen nicht richtig sei, zu angepasst, zu unterwürfig. Jetzt sage ich, ich bin wie ich bin und ich bin eben eher psychiatriefreundlich. Die vielen Menschen, die sich um mich gekümmert haben, manche mit viel Herzblut. Die vielen netten Profis, die mir bei meiner langjährigen Selbsthilfearbeit begegnet sind. Sicher waren dabei nicht alle auf Augenhöhe, auch eingebildet, arrogant, sehr von sich eingenommen und überzeugt - aber meist finde ich auch bei denen etwas Nettes oder ich kann sie einfach lassen, wie sie sind. Bin ich deswegen ein schlechter Interessenvertreter? Vielleicht fehlt mir da schon das Gefühl für Gerechtigkeit und Menschenrechte. Ich komme mehr vom System her und vielleicht weniger vom Menschen. Ich sehe, dass Psychiatrie nicht optimal läuft. Ich habe Ideen, wie es besser sein könnte, aber ich handle nicht aus Empörung und Entrüstung, sondern aus dem Wunsch heraus, es besser zu machen, um Psychiatrie weiter zu entwickeln.


Neben allen Modellen, Konzepten und Methoden ist für mich das Wichtigste, mit welcher Haltung die Profis den Patienten und den Klienten begegnen:

1.      Machen sie Mut oder demoralisieren sie?
2.      Nehmen sie ernst oder vermuten sie überall Betrug und Lügen?
3.      Glauben sie an die Genesung oder sprechen sie von austherapiert und chronisch?
4.      Spenden sie Trost und Hoffnung, wenn das Gegenüber keinen Sinn und keinen Ausweg mehr sieht oder schweigen sie dann hilflos?
5.      Haben sie selbst einen Sinn für sich gefunden, um auch anderen bei der Sinnsuche behilflich zu sein oder machen sie ihre Arbeit nach Vorschrift und Regeln ohne zu wissen weshalb?
6.      Können sie professionelle Nähe zulassen oder verstecken sie sich vielleicht sogar gleichgültig hinter der viel beschworenen professionellen Distanz?
7.      Glauben Sie an die Fähigkeiten des zu Unterstützenden, können sie diese erkennen und fördern oder sehen sie nur, was nicht geht, was defizitär scheint?
8.      Nehmen sie die Wünsche und Ziele ernst und fördern das Erreichen oder raten sie davon ab und reden von Fantasie und bemühen die in diesem Zusammenhang lähmende Vernunft?
9.      Verstehen sie sich als Berater und Assistent oder meinen sie genau zu wissen was richtig, falsch und besser ist?
10. Ist es ihnen die Befindlichkeit wicht oder denken sie nur an die Symptome unter denen gelitten wird?
11. Sind sie bereit Risiken einzugehen und an den Anderen zu glauben und bei Misserfolg es wieder zu wagen oder packen sie so in Watte, dass keine Entwicklung mehr möglich ist?
12. Sehen sie bei schwierigen Menschen das Liebenswerte, das jeder Mensch in sich trägt, deren Schrei nach Liebe und Anerkennung oder verurteilen sie das herausfordernde Verhalten, lehnen ab, grenzen aus, ja hassen sogar - selbst als bezahlte Helfer?

Das fällt mir zum Thema Haltung ein. Diese Wünsche an die Profis versammeln sich beim Recoveryansatz. Nicht dass das alles neu wäre, aber leider noch lange nicht überall umgesetzt. Mir ist klar, dass die Profis keine Übermenschen sind und genauso wenig perfekt sind, wie die von psychischer Erschütterung Betroffenen. Aber mit Recovery bekommen sie eine Leitlinie vermittelt und zwar nicht von ihren Chefs oder irgendwelchen Professoren, sondern direkt von den Betroffenen, denn der Recoveryansatz wurde von Psychiatrieerfahrenen aus den USA und Neuseeland entwickelt. 

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