Sonntag, 31. Juli 2016

Meine Lieblingsgedichte

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Novalis

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freye Leben
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu ächter Klarheit werden gatten,
Und man in Mährchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

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Stufen
Hermann Hesse

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

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Im Nebel
Hermann Hesse

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den anderen,
Jeder ist allein.

Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allem ihn trennt.

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.

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Der Panther
Rainer Maria Rilke

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein

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Unser Trauspruch
Psalm 71,20 (Züricher Bibel)

"Der Du uns schauen
ließest viel Angst und Not,
Dir wirst uns wieder beleben,
uns wieder heraufführen
aus der Tiefe der Erde."

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Sonnengeflecht
Novalis

a) Feuer bricht in die Zeit 
Nun steht er auf der Höh - der Mensch 
er schreit: Die Erde, sie ist mein 
und Tierwelt und Natur kämpfen 
um's Überleben, um ihr Sein 
FEUER BRICHT IN DIE ZEIT 
BRENNT IN DES MENSCHEN ERD UND LEIB' 
Ein Teil der Menschen kann entflieh'n 
sich retten mit dem Schiff auf's Meer 
und Tag und Nacht werden ausgelöscht 
die Sonne scheint nicht mehr 

b) Sonnenfinsternis 
Dunkelheit umtanzt das Schiff 
und Kälte zieht ins Gebein 
die Zeit geht mit der Ewigkeit 
am Todespfad spazieren 
Da bäumen sich die Wogen auf 
ein Sturm umbraust die Erd' 
die See schnellt hoch und löscht das Land 
Totenstille greift die Hand 

c) Dämmerung 
Langsam klärt sich der Horizont 
funkelnde Sterne beschwören die Stund' 
blutrote Wolken schweben in'der 
Fern' 
Angst bricht aus der Wund' 

DOCH DA ERHEBT SICH AUS DEM MEER 
GOLDGLÜHEND IN IHRER PRACHT 
LEUCHTENDWARM UND WUNDERBAR 
DIE SONNE ÜBER DER WELT EMPOR 
Menschen stehen wieder am Beginn 
der Erdenkleid verbrannt im Feuerwind 
Fruchtbarkeit sucht wieder ihr Gesicht 
und mit ihr der Mensch sein neues Paradies

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