Der LVPEBW – gestern, heute, morgen
Rückblick und Ausblick aus
persönlicher Sicht
Rainer Höflacher
Der Landesverband Psychiatrieerfahrener
Baden-Württemberg e.V. wurde 1993 als Landesarbeitsgemeinschaft zunächst ohne
Vereinsstatus in Heidelberg im Zuge der entstehenden Selbsthilfebewegung in der
Psychiatrie gegründet. Er verstand und versteht sich bis heute als Interessenvertretung
psychiatrieerfahrener Menschen in Baden-Württemberg. Mit Stand Juni 2021 hat
der LVPEBW 456 Einzelmitglieder mit kostenfreier Mitgliedschaft und 11
Selbsthilfegruppen und -organisationen als beitragszahlende Mitglieder. Er
verfolgt seinen Vereinszweck mit den Mitteln der Gremienarbeit,
Öffentlichkeitsarbeit, Stellungnahmen, Beratung, Vernetzungsarbeit und der
Durchführung von Projekten zur seelischen Gesundheit im weitesten Sinne.
Pauschal und auch projektbezogen wird der LVPEBW über die Selbsthilfeförderung
der Krankenkassen und des Landes Baden-Württemberg finanziert. Seit kurzem wird
versucht auch andere Finanzquellen zu erschließen.
Die Zeit der Gründung
In der Zeit, als die ersten Selbsthilfegruppen
Psychiatrieerfahrener entstanden, in denen sich dann oft auch die Menschen
fanden, die sich für bessere psychiatrische Hilfen und Strukturen einsetzten,
entwickelte sich auch der Partizipationsgedanke in der Psychiatrie. Von einer
entsprechenden Partizipationskultur war man noch weit entfernt. In diesem
Kontext entschlossen sich die Gründer des LVPEBW eine Interessenvertretung für
psychiatrieerfahrene Menschen in Baden-Württemberg aufzubauen. Es gab damals
kaum die Möglichkeit, dass auch Psychiatrieerfahrene am psychiatriepolitischen
Diskurs teilnehmen konnten. Viele Fachleute trauten ihnen dies auch nicht zu.
Anfang der 90er Jahre war die Zeit, als sich das änderte und die Psychiatrieerfahrenen
begannen sich selbst zu organisieren. Themen wie "Gewaltfreie
Psychiatrie", "Durchsetzung von Rechten" und "Umgang mit
Psychopharmaka" verbanden sie damals. Der Ton der Psychiatrieerfahrenen
gegenüber den Fachpersonen war rauer als heute, teilweise unversöhnlich und
nicht selten beleidigend.
Themen, die den LVPEBW seither begleiten
Aus dem psychiatriepolitischen Engagement der
Psychiatrieerfahrenen entwickelten sich nach und nach Themen, die den LVPEBW
bis heute begleiten:
Beschwerdestellen: Schon Mitte der 90er Jahre wurden die ersten
Beschwerdestellen in der Psychiatrie gegründet. Die Beschwerdestelle Stuttgart
war eine der ersten, wenn nicht die Erste und war lange Zeit beispielgebend für
andere Beschwerdestellen, als Ort, wo psychiatrieerfahrenen Menschen dabei
geholfen wird, ihre Rechte durchzusetzen, weil sie es aufgrund ihrer Einschränkungen
und der Stigmatisierung psychischer Erkrankungen besonders schwer damit haben.
Dies passt genau in die Agenda des LVPEBW. Der LVPEBW hatte auch großen Anteil
daran, dass mit dem Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (PsychKHG) in
Baden-Württemberg die unabhängigen, trialogisch besetzten Informations-,
Beratungs- und Beschwerdestellen (IBB-Stellen) flächendeckend und vom Land
finanziert aufgebaut wurden. Das war aus Sicht der Psychiatrieerfahrenen ein
großer Erfolg, auch wenn die IBB-Stellen nicht überall die Erwartungen an sie
erfüllen.
Krisendienste: Zusammen mit vielen Fachleuten und den Angehörigen
fordert der LVPEBW schon seit vielen Jahren, dass in Baden-Württemberg
Krisendienste bzw. in ländlichen Gebieten Netzwerke der Krisenhilfe aufgebaut
werden. Es ist auch heute noch eine große Schwachstelle der psychiatrischen Hilfen,
dass Menschen vor allem außerhalb der allgemeinen Dienstzeiten in
Krisensituationen alleine gelassen werden und vielen nichts anderes
übrigbleibt, als stationär in die psychiatrische Klinik zu gehen, ganz
abgesehen davon, dass das Erleben von psychischen Krisen mit großem
persönlichen Leiden verbunden ist. Es scheint in Baden-Württemberg unmöglich
eine angemessene Finanzierung zur Beseitigung dieses Missstandes zu entwickeln.
Andere Bundesländer wie Bayern machen es uns vor, wie Krisenbegleitung sinnvoll
funktionieren kann.
Aufsuchende Hilfen: Ebenfalls eine sehr alte Forderung ist, dass vermehrt
die Möglichkeit geschaffen wird, dass auch über akute Krisen hinaus Unterstützung
gerade auch aufsuchend im häuslichen Umfeld stattfindet. Vor einigen Jahren
initiierten der LVPEBW, der Landesverband der Angehörigen und der Fachverband
Psychiatrie des Diakonischen Werks Württemberg mit Hilfe des ZfP Südwürttemberg
eine große Veranstaltung zum Thema Home Treatment, was letztendlich zur
Gründung der Arbeitsgruppe Modellprojekte nach § 64b im Sozialministerium und
daraus folgend zu zwei Projekten mit Home Treatment führte. Home Treatment trat
allerdings wieder in den Hintergrund, als auf der Bundesebene die stationsäquivalente,
psychiatrische Akutbehandlung (StäB) eingeführt wurde. Darauf entschloss sich
der LVPEBW StäB zu unterstützen, die zwar aus der Idee und den Erfahrungen des
Home Treatments entstanden ist, sich aber konzeptionell vom Home Treatment unterscheidet
– und das teilweise nachteilig. Aber auch die aufsuchenden Hilfen der
Sozialpsychiatrischen Dienste (SpDi) sind für den LVPEBW von großer
Wichtigkeit. Wir sehen hier die Gefahr, dass durch die Betonung vor allem der
Vermittlungsfunktion des SpDi, wie es das Sozialministerium anstrebt, die
bewährte – allerdings noch nicht überall umgesetzte - aufsuchende Arbeit des
SpDi und die Möglichkeit von flexiblen, auch langfristigen Begleitungen geschwächt
wird.
Heime: Seit langem ist es ein in der Psychiatrie präsentes
Thema, dass in Pflegeheimen auch viele jüngere psychisch erkrankte Menschen seien,
die eigentlich im Rahmen der Eingliederungshilfe gefördert werden sollten
(diese Heime heißen im SGB IX nun „besondere Wohnformen“). Ein zweiter
Missstand ist es, dass Menschen, für die kein passendes Angebot in der Gemeinde
gefunden werden kann, teilweise weit entfernt von ihrem bisherigen Wohnort (nicht
selten in andere Bundesländer) in ein Heim ziehen müssen, wodurch natürlich die
bisherigen sozialen Kontakte verloren gehen. Der KVJS erhebt seit Jahren in
seiner Dokumentation der Gemeindepsychiatrischen Verbünde dazu Daten. Seit 2020
hat sich das Sozialministerium speziell dieses Themas verstärkt angenommen. Es
werden die aus Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse anhand von 4 Modellregionen
mit Umfragedaten untersucht und Daten aus den psychiatrischen Kliniken
analysiert. Dies betrifft vor allem Psychiatrieerfahrene mit komplexen
Erkrankungsbildern.
Themen aus jüngerer Zeit
EX-IN: Parallel zu den Auseinandersetzungen mit den
psychiatrischen Versorgungsstrukturen begann auch schon in den 80er Jahren die
Auseinandersetzung mit dem Verständnis von Krankheit und Genesung. Es
entstanden Psychose-Seminare, es entwickelte sich der Recovery-Ansatz und dann in
jüngerer Zeit auch das Konzept einer „Berufs-Qualifizierung“ für die
Genesungsbegleitung, nämlich EX-IN (Experienced-Involvement=Beteiligung von
Erfahrenen). Nachdem EX-IN Stuttgart, als erste EX-IN Initiative in
Baden-Württemberg, vom LVPEBW 2009 in die Trägerschaft der Offenen Herberge Stuttgart
wechselte, war EX-IN für den LVPEBW zeitweise ein untergeordnetes Thema. Obwohl
EX-IN erst 2005 in Bremen und Hamburg gestartet ist, hat es in der
Psychiatrielandschaft eine große Dynamik entwickelt. In Deutschland gibt es
aktuell etwas 35 Städte in denen EX-IN-Kurse angeboten werden. Immer mehr
Einrichtungen beschäftigen EX-IN-ausgebildete, bezahlte Genesungsbegleiter.
Grundsätzlich ist das sehr zu begrüßen – eine Nebenwirkung ist allerdings auch,
dass immer weniger Psychiatrieerfahrene bereit sind, sich in der
Interessenvertretung ehrenamtlich zu engagieren, da es dort nur in
Ausnahmefällen eine finanzielle Entlohnung gibt. Insgesamt verbreitet sich
unter Psychiatrieerfahrenen immer mehr eine materielle Orientierung, die zwar
verständlich ist, aber das ehrenamtliche Engagement schwächt. Wenn es in
Zukunft weiter fast unmöglich ist, als Interessenvertreter eine Anstellung oder
zumindest eine Aufwandsentschädigung zu bekommen, wird eine signifikante
Weiterentwicklung auf diesem Gebiet kaum möglich sein. Was EX-IN anbelangt hat
der LVPEBW versäumt bei einem sehr wichtigen Thema aktiv zu bleiben. Es stellt
sich allerdings auch die Frage, was der LVPEBW bei seinen Voraussetzungen zur
EX-IN-Bewegung beitragen hätte sollen? In Rheinland-Pfalz ist das
Landesnetzwerk Selbsthilfe seelische Gesundheit Träger von EX-N-Kursen. Dies
ist dem LVPEBW in Baden-Württemberg nicht gelungen.
Durch EX-IN ist in der Psychiatrie eine
psychiatriepolitisch zunächst einmal unabhängige, eigene Bewegung entstanden.
Es wird sich zeigen, wie sich diese in das psychiatriepolitische Umfeld einfügt
und ob sie die Interessenvertretungen schwächt oder ob durch EX-IN sogar neue Interessenvertreter*innen
gewonnen werden können. Hier hat auch der LVPEBW eine Möglichkeit auf die
Entwicklung von EX-IN in Baden-Württemberg Einfluss zu nehmen, nämlich durch
Vernetzung mit den verschiedenen EX-IN-Standorten in Baden-Württemberg, die es
inzwischen neben Stuttgart auch in Heidelberg, Friedrichshafen und Freiburg
gibt, und durch eine engere Zusammenarbeit mit dem Landesverband EX-IN BW, der
2016 gegründet wurde. Wie das im Detail aussehen kann, ist im Moment noch unklar.
Seit einigen Jahre hat sich der LVPEBW des Themas Recovery
angenommen. Der LVPEBW hat erkannt, dass mit der Umsetzung des
Recoverykonzeptes die Art und die Qualität von Behandlung und Begleitung
grundlegend verändert werden kann. Deswegen versucht der LVPEBW den
Recoveryansatz breit und umfänglich in Baden-Württemberg zu fördern und
innerhalb seiner Möglichkeiten umzusetzen. Zwei Vorstände sind auch maßgeblich
am Aufbau der Recoverycolleges in Stuttgart und Freiburg beteiligt. Dieses
Engagement wird im LVPEBW fortgesetzt werden.
In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass
nicht zuletzt durch EX-IN der Recovery-Ansatz in Deutschland eine weitere
Profilierung erfährt dadurch, dass in immer mehr Regionen sogenannte Recoverycolleges
aufgebaut werden, als Bildungseinrichtungen für seelische Gesundheit. Diese Entwicklung
zeigt, dass in Deutschland eine bestimmte Vorstellung von Genesung und
professioneller Unterstützung, die im Grunde nicht neu ist, einen Namen bekommen
hat.
Bundesteilhabegesetz (BTHG): Seitdem es am 30.12.2016 in Kraft getreten
ist, ist das BTHG, das am 1. Januar 2023 seine Wirkung verliert und dann
vollständig ins SGB IX übergeht, das beherrschende Thema in der
Behindertenhilfe. Obwohl beim LVPEBW derzeit ein Mitglied auf höchster Ebene im
Sozialministerium in den Entwicklungsprozess eingebunden ist, ist es dem LVPEBW
nicht gelungen, dieses Thema angemessen in seiner Agenda zu würdigen. Man wird
sehen, ob es gelingt die AG BTHG im LVPEBW wiederzubeleben, was aktuell
versucht wird. Dass in der Leitung zum Großteil kein großes Detailwissen zum
BTHG vorliegt, ist ein Schwachpunkt. Allerdings ist es durch die Komplexität
der Thematik und aufgrund der ständigen Veränderungen im Prozess sehr schwer
hier aktiv zu sein. Es braucht sehr viel Zeit, hier auf dem Laufenden zu
bleiben, das Durchhaltevermögen zu haben viele Seiten Gesetzestexte und
komplizierte Fachsprache zu lesen und dabei trotzdem all die anderen Aufgaben
im LVPEBW zu bewältigen. Die Gefahr ist groß, dass so die notwendige Kraft und
Motivation für die Beschäftigung mit dem BTHG verloren gehen, andererseits
handelt es sich um ganz zentrale Themen in der Weiterentwicklung des
Hilfesystems. Gerade auch zu diesem Themenbereich erscheint es wichtig über
neue, den Vorstand unterstützende Arbeitsformen und Maßnahmen nachzudenken.
Drei den LVPEBW prägende Menschen
Drei Personen sind besonders zu erwähnen, wenn es
darum geht in die Vergangenheit des LVPEBW zu blicken: Ursula Zingler, genannt
Uschi, die von Beginn an bis zu ihrem überraschenden Tod im Jahr 2010 den
Verein als Vorsitzende geleitet hatte. Klaus Laupichler der das Amt des
Vorsitzenden von Uschi Zingler nach deren Tod übernahm. Und Karl Heinz Eßer,
der von 1993 bis 2012 die Kasse des LVPEBW führte und heute noch als
Ehrenvorstand mitarbeitet.
Ursula Zingler hat begleitend zu ihrer Arbeit als
Korrektorin und Betriebsrätin beim Thieme Verlag für den LVPEBW Großes
geleistet. Schon im Jahr 1991 hat sie die Initiative Psychiatrie-Erfahrener
Stuttgart gegründet, wo sie 2001 ihr Sprecheramt abgab. 10 Jahre war sie in
Stuttgart als Interessenvertreterin Psychiatrieerfahrener eine feste Größe und
dort aktiv in den Gremien gewesen. Sie hat 1996 die Beschwerdestelle
Psychiatrie Stuttgart mitgegründet, in der sie bis zu ihrem Umzug von Esslingen
nach Laufen am Neckar mitgearbeitet hat. Sie war lange Zeit auch im geschäftsführenden
Vorstand des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener (BPE) engagiert und war
bundesweit bekannt als kompetente und unermüdliche Streiterin für die Rechte
psychiatrieerfahrener Menschen. Sie war eine starke Frau und scheute es auch
nicht Konflikte auszutragen. Vor allem aufgrund inhaltlicher Differenzen mit
dem BPE zog sie sich Ende der 2000er Jahre von der Bundesebene zurück und
widmete sich seitdem ausschließlich dem LVPEW, der im Jahr 2006 den
Vereinsstatus angenommen hatte, vor allem um weiterhin seine Finanzierung zu
sichern. Ursula Zingler hat die Anliegen
von Psychiatrieerfahrenen zu einem Lebensthema gemacht. Sie bezeichnete sich
als Depressionserfahrene, die aus eigener Arbeit an sich selbst dauerhafte Genesung
erlangt hat. Ursula Zingler wurde mit dem Bundesverdienstkreuz für ihr
ehrenamtliches Engagement geehrt.
Der zweite Mitgründer des LVPEBW, Karl Heinz Eßer,
bildete mit Ursula Zingler bis zu deren Tod ein sehr wirksames Team mit großer
persönlicher Verbundenheit. Karl Heinz Eßer arbeitet eher im Hintergrund, als
kluger und erfahrener Berater und sicherte dem LVPEBW die Finanzen, ohne die
dieser nicht in diesem Maße arbeitsfähig gewesen wäre.
Die dritte Person, die den LVPEBW geprägt hat, war
Klaus Laupichler. Er war in seinem Leben in fast aussichtloser Lage gewesen.
Alkoholsüchtig, obdachlos, später dann hochdosiert mit Psychopharmaka im
psychiatrischen Wohnheim. Er hat es geschafft mit großer Anstrengung und viel
Disziplin wieder auf einen guten Weg zu kommen und war jahrelang im Bundesverband
Psychiatrieerfahrener (BPE) engagiert und dort auch Mitglied des
geschäftsführenden Vorstandes gewesen. Er war in vielen Gremien in ganz
Deutschalnd tätig. Mit seiner sehr eindrucksvollen Persönlichkeit mit einer
Mischung aus Dickköpfigkeit und enormer Empathie für seine Mitmenschen,
erreichte Klaus Laupichler bundesweite Bedeutung und war sehr gut vernetzt. Mit
seiner Art alle Perspektiven zu sehen und seinen guten und oft tiefen
Beziehungen - auch zu Psychiatrie-Fachkräften - hinterließ Klaus Laupichler
nach seinem überraschenden Tod am 16. April 2015 eine große Lücke in der
Selbsthilfebewegung Psychiatrieerfahrener. Wenn man Klaus Laupichler traf,
vergaß man diese Begegnung nicht und selbst wenn er nur wenige Worte sagte, so
blieben einem diese in bleibender Erinnerung. Man merkte einfach: er wusste
wovon er sprach. Bei seinen Auseinandersetzungen mit den Fundamentalisten im
BPE musste er viele Anfeindungen und Kränkungen aushalten. Aber er ging
unbeirrt seinen Weg und als er 2010 im LVPEBW das Amt des Vorsitzenden übernahm
begann eine neue Ära im LVPEBW, die die Bedeutung des LVPEBW im
Baden-Württemberg nochmals deutlich steigerte.
Es gab viele weitere aktive Menschen, die mit den
Jahren kamen und auch wieder gingen. Alle haben sie sich für den LVPEBW
eingesetzt. Es sei ihnen gedankt. Genannt werden sollen hier stellvertretend
die bisherigen Vorsitzenden. Bis heute bekleideten seit Gründung folgende
Personen das Amt des/der Vorsitzenden: Ursula Zingler, Klaus Laupichler, René
Müller, Bernhard Dollerschell
Vereinskrise von 2013 bis 2015
Schon in der Ära Zingler gab es immer wieder Streit
innerhalb des Vorstandes oder auch mit einigen Mitgliedern. Die Differenzen
entstanden durch persönliche Unverträglichkeiten und weil die betreffenden
Personen die professionelle Psychiatrie als Gegner, ja teilweise sogar als
Feind sahen. Obwohl der LVPEBW damals durchaus auch aggressiv seine Positionen
vertrat, gingen Ursula Zingler diese extrem antipsychiatrischen Überzeugungen
zu weit. Sie zeigte hier viel Durchhaltevermögen und überstand alle Konflikte.
Kurz nach ihrem Tod spitzte sich ein Streit im Vorstand zu einer handfesten
Vereinskrise zu. Es entstanden zwei Lager, die sich unschön bekämpften. Beide
Seiten machten in der Art und Weise, wie der Konflikt geführt wurde Fehler. Es
wurden Kooperationspartner in den Streit mit hineingezogen bis hin zum
Sozialministerium. Erst als sich zwei wichtige Gegenspieler des Streites
zurückzogen, beruhigte sich die Situation. Als Ergebnis des langjährigen
Entwicklungsprozesses im LVPEBW kann festgestellt werden, dass sich die eher
konfliktbereiten und lauten Mitglieder sich nach und nach aus dem LVPEBW
zurückzogen.
Der LVPEBW und die Bundesebene
Diese Entwicklung im LVPEBW führte auch letztendlich
zum endgültigen Zerwürfnis mit dem BPE. Immer schon bestand ein Konflikt
zwischen der fundamentalistischen Sicht des BPE und der eher gemäßigten
Position des LVPEBW. Dieser Konflikt eskalierte, als in Baden-Württemberg damit
begonnen wurde ein Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (PsychKHG) auf den Weg zu
bringen, das dann 2015 in Kraft trat. Um seine politischen Ziele durchzusetzen,
gründete der BPE im Vorfeld in Baden-Württemberg eine Landesarbeitsgemeinschaft
Psychiatrie-Erfahrener Baden-Württemberg, um auf die Ausgestaltung des neuen
Gesetzes Einfluss zu nehmen, betrieb also eine Spaltung. Diese LAG verschwand aber
wieder aus der Psychiatrielandschaft, als das PsychKHG fertiggestellt war. Es
kam auch zu mehreren unschönen Szenen in Veranstaltungen, wo Mitglieder des BPE
deren Ablauf störten. Dieses Auftreten hatte beim Landespsychiatrietag 2015
wohl seinen Höhepunkt, als sogar der Sozialminister versuchte den Streit zu
schlichten.
Als dann der damalige Vorsitzende und sein
Geschäftsführer öffentlich äußerten, dass eine Zwangsbehandlung als Ultima Ratio
im Einzelfall sinnvoll sein kann, wurden die beiden aus dem BPE ausgeschlossen,
weil dies als eine für den BPE vereinsschädliche Äußerung interpretiert wurde.
Daraufhin kündigte der LVPEBW seinen Sitz im erweiterten Vorstand des BPE und
machte sich vollständig unabhängig vom ihm. Heute bestehen mit dem BPE
keinerlei Kontakte mehr und es ist im Vorstand des LVPEBW nicht einmal bekannt,
ob sich der BPE seitdem in seiner politischen Haltung und seinem Handeln
verändert hat. Derzeit gibt es seitens des LVPEBW keine Bestrebungen wieder auf
den BPE zuzugehen, obwohl die frühere Arbeit des BPE nicht grundsätzlich und
ausschließlich als schlecht angesehen wird.
Da auch in anderen Bundesländern die psychiatrische
Selbsthilfe-Szene nicht überall mit der Entwicklung im BPE einverstanden war und
den professionellen Fachverbänden vermehrt Ansprechpartner für bestimmte Themen
fehlten, gründete sich im Jahr 2016 als Alternative zum BPE das Bundesnetzwerk
Selbsthilfe seelische Gesundheit, kurz NetzG genannt. NetzG wird stark von dem
politisch einflussreichen Verein Aktion psychisch Kranke (APK) unterstützt.
Zeitweise war der damalige Geschäftsführer des LVPEBW Vorstandsmitglied von
NetzG. Heute ist der LVPEBW dort Mitglied und es bestehen gute Kontakte. Somit
hat der LVPEBW über NetzG auch die Möglichkeit auf Themen des Bundes Einfluss
zu nehmen.
Kooperativer Partner oder streitbarer Gegener?
Während früher eher der Kampf gegen Ungerechtigkeit
und Willkür in der Psychiatrie im Vordergrund stand, entwickelte sich der
LVPEBW allmählich mehr in Richtung der Verbesserung der psychiatrischen
"Versorgung". Auch schon Ursula Zingler war im Gegensatz zum BPE in
vielen Fällen zur Kooperation mit dem professionellen Psychiatrie-System
bereit. Diese Entwicklung verstärkte sich unter der Führung der ihr folgenden
Vorsitzenden. Heute hat sich der LVPEBW für eine weitgehend kooperative
Zusammenarbeit im Trialog entschieden und bringt seine Positionen als
integrierter Akteur ein. Dies kann durchaus auch kritisch gesehen werden, da
durch die jahrelange, gute Zusammenarbeit mit professionellen Verbänden und
Fachpersonen Beziehungen, aber auch Abhängigkeiten entstehen, die auch
in bestimmten Fällen verhindern können, dass konfliktträchtige Themen auch
tatsächlich angesprochen werden.
Immerhin decken sich die psychiatriepolitischen Ziele des LVPEBW oft mit denen
der professionellen Fachverbände und der Angehörigen, so dass es häufig zur partnerschaftlichen
Zusammenarbeit kommt. Gemeinsam, im Trialog, versuchen die Verbände neue
Konzepte und Behandlungsformen gegenüber dem in Teilen noch in Tradition und
Gewöhnung verhafteten psychiatrischen Hilfesystem durchzusetzen. Es ist den
führenden Personen im LVPEBW zuzurechnen, aber auch einer Psychiatrie, die
ihren Schrecken von früher immer mehr verliert, dass die Haltung und das
Verhalten des LVPEBW milder geworden ist. Manche bedauern und kritisieren dies,
da der LVPEBW inzwischen wohl als weniger streitbar wahrgenommen wird. Ohne
Konfliktscheu und mit Streitbarkeit gegen Missstände anzugehen, das braucht es
in der Psychiatrie ohne Zweifel immer noch. Es könnte auch sein, dass der
LVPEBW aufgrund mangelnder Konfliktbereitschaft wichtige Themen nicht
ausreichend voranbringt oder gar nicht erst aufgreift. Das Thema "Zwang
und Gewalt" ist ein gutes Beispiel dafür.
Nachdem es gerade hier große inhaltliche Konflikte
innerhalb der Selbsthilfe gab, mit zum Teil heftigen Kränkungen auch auf der
persönlichen Ebene, hat sich der LVPEBW erst mal von diesem für die Psychiatrie
eigentlich so wichtigen Thema zurückgezogen. Man wird sehen, wie es sich
darstellt, wenn neue Personen beim LVPEBW in die Leitung kommen.
Als ein Ergebnis dieser Umorientierung des LVPEBW ist
dieser heute gut vernetzt auf Landesebene, ist als Interessenvertretung
anerkannt und gefragt, seine Stellungnahmen werden in der Regel gehört und
ernst genommen. Die Philosophie des LVPEBW ist es, durch ein konstruktives
Miteinander und nicht durch ein Gegeneinander seine Positionen durchzusetzen.
Diese Strategie ist durchaus immer wieder auch reflexionswürdig, aber sie
entspricht der Mentalität der Verantwortlichen im LVPEBW und ist insofern
konsequent.
Der LVPEBW als Dach von Selbsthilfegruppen
Bis 2018 standen auf der Website des LVPEBW ca. 40
Selbsthilfegruppen als dem LVPEBW zugeordnet. Leider wurde versäumt den Kontakt
zur Basis systematisch zu pflegen und am Leben zu erhalten. Als dann die
Krankenkassen für ihre finanzielle Förderung forderten, dass Beiträge erhoben
werden müssen – bis dahin war die Mitgliedschaft im LVPEBW kostenfrei - wurde
ein Mitgliedsbeitrag für Selbsthilfegruppen erhoben. Einzelpersonen können nach
wie vor kostenfrei beim LVPEBW Mitglied sein. Bisher waren die Selbsthilfegruppen
mit dem LVPEBW lose verbunden. Als diese reguläre Mitglieder mit
Mitgliedsbeitrag werden mussten, reduzierte sich deren Anzahl erheblich, obwohl
die Selbsthilfegruppen den Mitgliedsbeitrag über ihre Pauschalfinanzierung
durch die Krankenkassen wieder zurückerstattet bekommen hätten.
Auch heute noch ist der Kontakt zu den lokalen
Selbsthilfegruppen sehr verbesserungswürdig. Email- und Telefonaktionen, um
neue Selbsthilfegruppen zu werben, verliefen erfolglos. Im Vorstand gibt es
sehr unterschiedliches Wissen um die Menschen in den Selbsthilfegruppen vor
Ort, das dem Gesamtvorstand nicht zur Verfügung steht. Eine schriftliche
Fixierung wäre hier wichtig, damit dieses Wissen mit dem Wechsel von Personen
im Vorstand nicht verloren geht.
Projekt Engagierte gewinnen
Im Jahr 2018 war die Situation dann so, dass der
Vorstand harmonisch und erfolgreich zusammenarbeitete, dass es aber nur noch
wenige Mitglieder gab, die sich ergänzend zum Vorstand intensiv im Verband
engagierten. Als Konsequenz darauf startete der LVPEBW das Projekt
"Engagierte gewinnen", in dem systematisch daran gearbeitet wurde,
dass die Arbeit des Vorstandes auch wieder durch weitere aktive Mitglieder
mitgetragen wird. Nachdem vorher der Versuch der Einführung eines
Beraterkreises und danach der Aufbau einer Aktivengruppe gescheitert war, war
die Hoffnung, mit diesem Projekt Erfolg zu haben, nicht allzu groß. Aber heute,
mit Stand 2021, zeigt sich erste positive Wirkung, die Zuversicht aufkommen
lässt. Mit der Entscheidung des Vorstandes, auch andere Menschen in Gremien zu
delegieren, sind diesbezüglich jetzt schon einige Vereinsmitglieder an die
Stelle der Vorstände getreten. Zudem konnte über eine große Werbeaktion ein
Engagierten-Verteiler mit aktuell 20 Mitgliedern aufgebaut werden, die alle
zusagten Interesse an einer Mitarbeit im LVPEBW zu haben. Darunter sind
Menschen, bei denen sich jetzt schon herausragende Kompetenzen zeigen. Wenn es
gelänge, dass diese weiteren Aufgaben im LVPEBW übernehmen, dann wäre dies für
den LVPEBW ein weiterer großer Schritt vorwärts.
Es zeigt sich aber auch, dass das vermehrte Einbinden
von Menschen in die Vorstandsarbeit, mit einem größeren Aufwand für die beiden
Vorsitzenden verbunden ist. Neben der inhaltlichen Arbeit an Themen und der
Vernetzungsarbeit mit anderen Verbänden kommt nun die Aufgabe auf die Vorstände
zu, den neuen Engagierten unterstützend zur Seite zu stehen. Ziel muss es sein,
dass die Engagierten selbstständiger und eigenverantwortlicher mitarbeiten.
Dies braucht aber Zeit und Geduld auf Seiten des Vorstandes. Optimal wäre es,
wenn sich unter den Engagierten Eigeninitiative entwickeln würde und Themen
eigenständig vorangebracht werden würden. Wobei sich der Vorstand seiner
Verantwortung und seiner Verpflichtung zur Zusammenarbeit und inhaltlichen
Koordination selbstverständlich nicht entziehen will. Es gilt die Regel
Verantwortung und auch Einfluss da abzugeben, wo es möglich ist, nicht zuletzt,
weil die Einbeziehung in Verantwortung zu einer höheren Motivation und
Identifikation der Mitglieder führen kann. Dazu gehört aber auch gegenseitiges
Vertrauen, denn letztendlich ist es der geschäftsführende Vorstand, der die
übergeordnete Verantwortung hat.
In diesem Zusammenhang ist auch zu reflektieren, ob
wir im LVPEBW auch eine gute Kultur der Wertschätzung für ehrenamtliche
Mitarbeit haben. Es wäre eine Überlegung wert, diese ganz konkret vermehrt zu
würdigen. Sei es zum Beispiel über kleine Geschenke oder durch die Organisation
eines jährlichen Engagiertenfestes. Bestimmt gibt es hierfür auch noch andere
gute Ideen.
Kontakt zur Presse und Politik
Zwei weitere Schwachstellen wurden erst jetzt im
LVPEBW angegangen. Bisher gab es im LVPEBW außer über das Sozialministerium
keine eigenen Kontakte zur Politik und Pressearbeit fand nicht statt, außer dass
gelegentlich Artikel für Fachzeitschriften oder Buchbeiträge veröffentlicht
wurden. Ein Mitglied des Engagierten-Verteilers überlies uns nun
freundlicherweise seine Mailverteiler zu für uns relevanten Parteipolitikern
und einen relativ großen Presseverteiler, sodass wir schon mit zwei
Stellungnahmen diese Personenkreise kontaktieren konnten. Dies ist der erste
Schritt hin zur eigenständigen Kontaktaufnahme zu Politikern, die unsere Themen
aufgreifen und unterstützen könnten, und zur Presse, um zu größerer
öffentlicher Aufmerksamkeit und mehr Wirksamkeit unserer Stellungnahmen zu
kommen.
Der LVPEBW und die Angehörigen
Anders als in vielen anderen Bundesländern verbindet
in Baden-Württemberg die Psychiatrieerfahrenen mit den Angehörigen eine lange
Tradition von guter Zusammenarbeit. Obwohl es durchaus unterschiedliche
Sichtweisen im LVPEBW und dem Landesverband der Angehörigen gibt, wie zum
Beispiel bei der Bewertung von Zwang und Gewalt in der Psychiatrie, oder bei
der Einschätzung mit dem Umgang mit Psychopharmaka, so führte dies nie zu
ernsthaften Konflikten. Man kann die unterschiedlichen Positionen stehen lassen
und sich auf die anderen zahlreichen Themen konzentrieren, bei denen eine gute Zusammenarbeit
möglich ist. Immer wieder verfassten der LVPEBW und der LVBWApK gemeinsame
Stellungnahmen und planen jetzt sogar das gemeinsame Projekt IPAGs mit einem
Volumen von ca. 280.000 €, das beide Verbände vor eine große Herausforderung
stellt, sollte der Förderantrag angenommen werden.
Das Projekt IPAGs
IPAGs ist die Abkürzung für "Interessenvertretung
Psychiatrieerfahrener und Angehöriger im Gemeindepsychiatrischen Verbund
stärken". Mit diesem Projekt wurde im LVPEBW Neuland beschritten. Zum
ersten Mal wird eine Finanzierung außerhalb der üblichen Selbsthilfeförderung
angestrebt. Schon das Vorbereitungsprojekt für IPAGs wurde aus Landesmitteln
gefördert und ein Antrag auf Projektförderung wurde bei Aktion Mensch gestellt.
Aber auch von den Beteiligten her ergibt sich ein Novum. Es handelt sich um
eine verbindliche Zusammenarbeit mit dem Landesverband der Angehörigen mit der
Unterstützung von zwei Psychiatrie-Fachpersonen in der AG Partizipation. Dies
kann gut als Vorbild für weitere solche oder ähnliche Vorhaben dienen.
Das Projekt IPAGs ist eine Herausforderung und
zugleich eine große Chance für den LVPEBW im großen Umfang ein ihm
nahestehendes, ursprüngliches Thema anzugehen. Sollte der Antrag bei Aktion
Mensch bewilligt werden, wird es sich zeigen, ob der LVPEBW zusammen mit dem
Landesverband der Angehörigen ein Projekt in dieser Größenordnung angehen kann.
Das würde alles an finanzieller Verantwortung bisher Dagewesene übersteigen. Es
wäre schade, wenn die jahrelange Vorbereitung des Projektes nicht das
gewünschte Ziel in geplanter Weise erreichen würde und mit weitaus weniger
Ressourcen weiterverfolgt werden müsste.
Ein Verband für alle? Namensgebung des LVPEBW
Alles ist im Fluss. War Anfang der 90er Jahre die
Bezeichnung „Psychiatrie-Erfahrene*r“ noch ein Fortschritt, weil dadurch nur
die Erfahrung mit der Psychiatrie benannt und keine Krankheit oder Diagnose
zugeschrieben wird, so wird heute festgestellt, dass das Wort „Psychiatrie-Erfahrener“
im Vereinsnamen manche Menschen abschreckt, die „nur“ in ambulanter
psychiatrischer Behandlung oder Patient*in in einer psychosomatischen Klinik
waren. Gerade diese Menschen aber könnten oft viel Energie und Wissen beim
LVPEBW einbringen. Auch meinen nicht selten Menschen, die Erfahrungen mit
seelischen Krisen haben, dass sie sich beim LVPEBW nur engagieren können, wenn
sie Erfahrungen in der stationären Psychiatrie gemacht haben. Am Anfang der
Verbandsarbeit stand ganz im Vordergrund die Auseinandersetzung mit den
konkreten Problemen der psychiatrischen Einrichtungen und Dienste, insbesondere
der Kliniken und das kam dann auch in der Namensgebung zum Ausdruck. Dann wurde
daneben immer wichtiger sich auch mit Themen wie Partizipation und, Konzepten
zu Genesung zu beschäftigen. Es ist eine grundlegende Entscheidung inwieweit
sich der LVPEBW weiteren Personengruppen von seelisch erschütterten Menschen
zuwendet, was eine große personelle Stärkung und auch die Auswahl neuer,
zusätzlicher Themen zur Folge haben könnte. Dies muss gut überlegt sein und auch
breit und ausführlich mit den Mitgliedern diskutiert werden.
Deshalb stellt sich heute auch die Frage, ob der
Vereinsname „Landesverband Psychiatrie-Erfahrener“ noch zeitgemäß ist. Der
Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz (LVPE RLP) hat sich seit
ein paar Jahren in Landesnetzwerk Selbsthilfe seelische Gesundheit
Rheinland-Pfalz (NetzG RLP) umbenannt. Allerdings bestehen hier auch starke
Personalunionen zum NetzG Bundesnetzwerk. Sollte sich auch der LVPEBW
umbenennen in Landesnetzwerk seelische Gesundheit Baden-Württemberg (NetzG BW)?
Dadurch würde eine Nähe zum NetzG Bundesnetzwerk sichtbar und vielleicht sogar eine
vermeintliche Abhängigkeit davon nach außen signalisiert. Will man das? Auch die
Namensänderung muss gut überlegt sein unter Einbeziehung der Mitglieder.
"Bei den Schwächsten beginnen"
Einerseits wäre es an der Zeit, dass sich der LVPEBW
der Entwicklung anpasst und alle Menschen mit Erfahrungen mit seelischen Krisen
als Zielgruppe anspricht - auch die, die sich von der Bezeichnung
Psychiatrieerfahrene*r nicht ohne weiteres angesprochen fühlen. Andererseits
wäre das vielleicht eine Abkehr von dem Bekenntnis, sich gerade auch für die
schwer psychisch erkrankten Menschen einzusetzen, nach dem Leitsatz des
bekannten Sozialpsychiaters Klaus Dörner "Bei den Schwächsten mit der
Unterstützung beginnen". Wenn man ehrlich ist, ist dieser Gedanke beim
LVPEBW sowieso nicht mehr sehr präsent. Die Hochschwelligkeit der
psychiatriepolitischen Arbeit setzt leider einen relativ fortgeschrittenen
Genesungsweg der Akteure voraus, sodass die Gefahr für die politisch Aktiven
besteht, sich von den schwer psychisch erkrankten Menschen zu entfernen. Es
kann auch sein, dass wenn die eigenen dramatischen Erfahrungen mit der
Psychiatrie weit zurückliegen, sich die innere Distanz zu den Problemen der
gegenwärtig leidenden Menschen vergrößert. Somit muss es das Ziel sein, sich
immer wieder auch zu vergegenwärtigen, dass schwer psychisch belastete Menschen
häufig zu wenig Unterstützung bekommen, durch das Netz der Hilfen fallen und deshalb
besonders auf eine Interessenvertretung angewiesen sind, die ihre Lage auch
berücksichtigt. Leider es so, dass die Selbsthilfe nur selten Kontakt zu den
Schwächsten bekommt, da es diesen in der Regel nicht gelingt an
Selbsthilfegruppen teilzunehmen. Vielleicht könnten hier unter anderem über die
IBB-Stellen, EX-IN-Genesungsbegleiter, Sozialpsychiatrischen Dienste und das
Betreute Wohnen Kontakte aufgebaut werden, die zur Vermittlung dieses
Personenkreises in Selbsthilfegruppen führen. Es kommt häufig vor, dass gerade schwer
psychisch erkrankte Menschen nur noch Kontakt zu ihren professionellen
Begleitern oder Behandlern haben und/oder isoliert und ausgegrenzt bei ihren
Angehörigen leben.
Weiterentwicklung des Verständnisses von Partizipation
Ein weiterer Ansatzpunkt, um dieser Problematik
entgegenzuwirken, ist es, die Psychiatriefachpersonen dazu zu bringen, es mit
Partizipation ernst zu nehmen und auf die persönlichen Gegebenheiten und
Voraussetzungen der Interessenvertreter*innen einzugehen, soweit es die
Komplexität der Thematik zulässt. Partizipation darf nicht nur ein
Lippenbekenntnis sein, was es leider oft noch ist. Sowie Partizipation für die
Fachpersonen anstrengend, zeitaufwändig und kostenintensiv wird, schwindet
nicht selten das Engagement dafür. Aber auch für die Leitung des LVPEBW ist
dies relevant, da hier Partizipation gegenüber den Mitgliedern vorgelebt werden
sollte.
Menschlicher Umgang
Der LVPEBW blickt inzwischen auf eine 28jährige
Geschichte zurück. Sehr viel ist in dieser Zeit passiert. Leider gibt es kein
gut gepflegtes Archiv, sodass vieles in Vergessenheit geraten ist. Weiter wird
es ein Ziel bleiben, sich weiter zu professionalisieren, was sich auch in der
finanziellen Anerkennung der Mitarbeitenden ausdrücken soll. Letztendlich gilt
aber die Regel "Arbeit soll uns guttun", vor allem das Ehrenamt. Das
setzt eine Zusammenarbeit voraus, bei der wertschätzend und wohlwollend
miteinander umgegangen wird. Diese Prämisse sollte über allem stehen, denn vor
dem politischen Erfolg steht die Wahl der Mittel und die sollten nach innen und
nach außen von Menschlichkeit bestimmt sein. Wenn das gelingt, kann man für den
LVPEBW optimistisch in die Zukunft blicken. Leider scheint es so zu sein, dass
nicht alle zwischenmenschlichen Konflikte befriedigend gelöst werden können. So
ist es manchmal der einzige Weg Distanz zwischen den Konfliktpartnern
herzustellen.
Perspektiven Organisationsentwicklung
Vor dem Hintergrund der
beschriebenen Komplexität der Aufgaben und Herausforderungen gibt es gute
Gründe, sich auch intensiver mit der Organisationsentwicklung des Vereins zu
beschäftigen. Es scheint, dass die Aktivitäten des LVPEBW sich eher am
Einzelfall ergeben, zu reaktiv sind und ein übergeordneter Plan fehlt. Immer
wieder wurden Versuche gemacht entsprechende Übersichten zu entwickeln, aber
sie wurden nie ausreichend im Vorstand diskutiert und hatten auf die
gegenwärtige Arbeit keinen Einfluss. Es wäre wichtig, hier in Zukunft einen
weiteren Schwerpunkt zu setzen, um die Themen, die Gremienarbeit und die Projekte
im LVPEBW zu ordnen, die Zuständigkeiten zu klären und zu einer übergreifenden
und längerfristigen Strategie zu kommen. Aufgrund der zahlreichen Einzelthemen,
die im LVPEBW bearbeitet werden, kommen grundsätzliche, planerische und
organisatorische Aspekte seit langem zu kurz. Die Vorstände sollten sich daher gemeinsam
auch Zeit nehmen für die Reflexion ihrer Arbeit. Somit könnten neue
Organisationsstrukturen geschaffen, umgesetzt werden und ein längerfristig
geplantes Vorgehen erreicht werden. Dazu wäre es sehr vorteilhaft, externe
Beratung durch entsprechende Spezialisten einzuholen.
Fazit
Man sieht, vieles ist passiert im LVPEBW in fast 30
Jahren. Viele Themen sind in Bearbeitung. Der LVPEBW ist ein anerkannter Akteur
in der Psychiatriepolitik auf Landesebene geworden, der durchaus einen gewissen
Einfluss auf das Geschehen auf die Psychiatrie in Baden-Württemberg hat. Aber
es ist abzusehen, dass es im LVPEBW wieder Rückschritte geben wird, wenn es
nicht gelingt mehr Menschen einzubinden, die sich im LVPEBW engagieren, und
diese Mitarbeit dann auch zu koordinieren. Da schließe ich auch Psychiatrie-Fachpersonen
mit ein, da es zum Beispiel das Projekt IPAGs gut zeigt, wie fruchtbar und
hilfreich es sein kann aktive Fachleute bei komplexen Aufgabenstellungen an der
Seite zu haben. Man kann sagen, dass der LVPEBW diesbezüglich derzeit so
erfolgreich ist, wie seit Jahren nicht mehr.
Es wird sich zeigen, ob es uns gelingt mit genügend
Energie und Zeit diesen Weg weiterzugehen, dann hat der LVPEBW gute Chancen
noch mehr Einfluss auf die Entwicklung der Psychiatrie in Baden-Württemberg zu
nehmen, um somit sein zentrales Anliegen zu verwirklichen: Die Situation und
die Befindlichkeit für Menschen zu verbessern, die Erfahrungen mit psychischen
Krisen haben.
Rainer Höflacher im Juni 2021
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